Jedes Jahr ab Mitte September befindet sich München im Ausnahmezustand. Rund um die Theresienwiese spielen sich für drei Wochen tumultartige Szenen ab, Züge und U-Bahnen sehen danach so aus, als hätte man sie seit 1835 nicht mehr erneuert oder geputzt. Zu dieser Zeit werden jegliche Regeln des guten Benehmens aufgehoben. Touristen wie Einheimische werden vom Bermudadreieck Oktoberfest angezogen wie Fliegen von einem Misthaufen.
Seit Jahren fragen sich die Ruamzuzla: Worin liegt die Faszination der Wiesn? Und was ist der Grund dafür, dass sich die Menschen hier so daneben benehmen?
Jährlich pilgert somit auch der Stammtisch nach München. Bisher konnten diese Fragen aber noch nicht beantwortet werden – merkwürdigerweise haben alle Mitglieder nach dem Besuch teils erhebliche Erinnerungslücken. Aber vielleicht klappt es ja dieses Jahr. Dem Autor wurde als erstem Nicht-Mitglied die Ehre zuteil, die Rübensauger auf ihrem traditionellen Ausflug begleiten zu dürfen.
Am Münchener Hauptbahnhof steigen die Zuzla frühmorgens mit einem Glitzern in den Augen aus ihrem Zug: Dieses Mal wird das Geheimnis gelüftet. Sie sind sich sicher.
Bereits zu dieser Zeit ist es schwierig, in ihr Stammzelt, den Schottenhamel, zu kommen. Eine lange Schlange vor der Tür erwartet die Ruamzuzla. Für die elitäre Gemeinschaft, angeführt vom hochwohlgeborenen Vorstand Fabian Haydn, stellen sich allerdings die Probleme des gewöhnlichen Fußvolkes nicht. Haydn hat Beziehungen nach ganz oben – ohne langes Anstehen werden die VIPs ins Zelt geleitet, sogar der Autor, der nicht zu dem erlesenen Kreis zählt, wird durch einen eigentlich verschlossenen Seiteneingang eingelassen. Leider konnte der Vorstand eine von ihm versprochene Rede auf der Bühne dann doch nicht halten. Der undankbare Schottenhamel-Chef war wohl nicht überzeugt von seinen Redekünsten und nahm sich sogar die Frechheit heraus, Django aus seinem Büro zu werfen.
Die Mission führt die Zuzla in der Mittagshitze wieder aus dem Zelt heraus. Auf dem Kotzhügel liegen bereits die ersten frischen Australier des Tages in den Fäkalien anderer Oktoberfest-Besucher. „Mia miasma iatzt endle aussafindn, wos mit de Leid lous is..i vastehs ned!“. Kassenprüfer Andreas Schuster lässt das rätselhafte Benehmen der Menschen verzweifeln. Im Schottenhamel haben einige Stammtischler schon in meditativer Haltung mit geschlossenen Augen minutenlang über die postapokalyptischen Zustände sinniert. Dass sie kurz weggenickt sind, würde nur ein Laie vermuten. Nichts liegt der Wahrheit ferner.
Vielleicht kommt man ja auf der Oidn Wiesn weiter. Hier geht es noch traditioneller, urbayrischer zu – möglicherweise liegt des Rätsels Lösung in der Geschichte des Oktoberfests. Man trifft auf die Schöbrunner Blemuse, die just am selben Tag im Herzkasperlzelt einen Auftritt haben. Aber auch die können der Gruppe nicht weiterhelfen. Michael Haydn lädt den Autor auf eine Runde Kettenkarussell ein, um den Kopf freizubekommen. Hier auf der Oidn Wiesn scheint die Welt noch in Ordnung zu sein.
Vielleicht sollte man sich von der Bavaria einen Überblick verschaffen. Das große Ganze zu sehen, das bringt einem vielleicht die Erleuchtung. Auf dem Aussichtsplatz angekommen, bietet sich einem gleich der Anblick eines Japaners, der mit einem Tablet ein Selfie macht. Sprachlosigkeit macht sich breit. In was für eine Welt ist man da hineingeraten? Der Tiefpunkt ist erreicht.
Allein Christian Kainz ist vergnügt. Er hat eine Basecap vom Autor gestohlen. Es macht ihm sichtlich Freude, sie zu tragen – laut Stammtischfreund Florian Schreiner einer der schlimmsten Ausrutscher, die man sich auf dem Oktoberfest leisten kann. Aber man hat an diesem Tag schon zu viel gesehen. Später wird der 2. Vorstand noch mit einer Sonnenbrille im Soda in Passau herumlaufen, die Michael Haydn im Dreck auf dem Boden in München gefunden hat. Auf ihn hat die Infektion wohl schon übergegriffen. Vielleicht ist er den Australiern zu nahe gekommen.
Die Luft ist sogar außerhalb der Zelte alkoholgeschwängert. Manuel Hirner und Bastian Poxleitner wechseln einen verzweifelten Blick. „I woas ned, ob ma na dahinterkemand. I glaub i konzentrier me wieder afs Pfingstfest Hohenau. Do woase, wose ha“, äußert der Beisitzer.
Der Tag neigt sich dem Ende zu. Man hat das Gefühl, keinen Schritt weitergekommen zu sein. Aber immerhin kann man sich auf den ersten Drink im Soda freuen. Der Autor verabschiedet sich von den Ruamzuzlan. Thomas Pauli schüttelt lang seine Hand. „Des is iatzt scha wieder gwen. Iatzt doama na ins Soda. Do benehmand se d Leid a scheisse..owa irgendwie anders.“ Er zögert. „Owa nächsts Joa, do griangmas aussa. Wenn da Herzi wieder dabei ist, der hod an Blick fia sowos. Der war letzts Joa scha kurz davor.“ Hoffnung keimt auf, die Stimmung steigt langsam. Sie steigen ein in den RE 4088 nach Passau. Der Zug verlässt den Bahnhof. Irgendwie ist man froh, dass der Tag vorbei ist. Aber irgendwie will man wiederkommen. Wieso, weiß niemand.